Smarte Produkte in der Fassade: Schaltbare Verglasung II
Viktoria König
Dieser Artikel widmet sich der schaltbaren Verglasung in der Fassade. Dabei handelt es sich um eine Aktualisierung des im März 2019 erschienen Artikels über smarte Produkte in der Fassade.
Der Markt für das smarte Zuhause wächst weiter
Das moderne Zuhause wird digital gesteuert. Licht, Türen, Steckdosen, Fenster, Sensoren, Lautsprecher, Sicherheitssysteme, Schlösser, Kameras, Heizung-Lüftung-Kühlung etc. sind miteinander vernetzt und werden smart gesteuert. Digitale Giganten wie Amazon (Alexa, echo), Apple (Siri, HomeKit), Google (GoogleHome, nest) und Microsoft (Cortana) sind in die Steuerung der Haustechnik eingestiegen und haben sich auf dem schnell wachsenden Smart-Home Markt positioniert. Je nach Studie nehmen die Umsätze im Smart-Home Bereich im Zeitraum von 2017 bis 2025 um 13 bis 15% pro Jahr zu.
Verschmelzung von Produkt und Software | Vernetzung
Die Gebäudehülle der Zukunft ist vernetzt und passt sich an sich verändernde Umweltbedingungen an. Statische und variable Daten wie der Winkel der Sonne, die Wolkendecke, die Tageszeit, nachbarschaftliche Objekte, die Ausrichtung des Gebäudes Bediengewohnheiten etc. werden erfasst, vernetzt, fortlaufend ausgewertet und lösen automatisierte Aktionen aus. Ein Beispiel:
Nach einem sonnigen Vormittag ziehen Wolken auf, die Sonne wird verdeckt " Am Gebäude angebrachte Sensoren melden in Realtime Bewölkungsstatus, Sonneneinstrahlungsgrad, Raumtemperatur etc. " die Fassade bzw. das Glas wird heller geschalten, Klimaanlage reduziert, Licht eingeschalten oder heller gedimmt usw.
Bin ich als Unternehmen betroffen? Was kann ich tun?
Potential Internet of Things
Die intelligente Gebäudesteuerung führt zu einer erhöhten Energieeffizienz (CO2 optimiert) bei besserem Raumklima, Mensch und Umwelt profitieren also davon.
Die adaptive Gebäudehülle bzw. Smart Home im Allgemeinen wird durch die Verschmelzung von Produkt mit Software sowie deren Vernetzung ermöglicht, Bauprodukte werden zu IoT-Devices (IoT = Internet of Things), das Gebäude wird zu einem System. Die unterschiedlichsten Produkte unter einem Dach kommunizieren miteinander, reagieren auf sich verändernde Umstände, Gegenstände wie das smarte Glas können per Updates zusätzlich zu einer Alarmanlage werden usw.
Es scheint noch viel unerschöpftes Potenzial zu geben.
Habe ich als Unternehmen auch noch Potenzial, wie finde ich dies heraus?
Welchen digitalen Reifegrad habe ich?
Wie komme ich als Unternehmen der Bauzulieferbranche zu Software- und IoT-Wissen? Muss ich mir dies selber aneignen oder kann ich von Dritten profitieren?
Wie sollte mein Ecosystem aussehen?
Wie digital ist mein Unternehmen / meine Organisation?
Um den digitalen Reifegrad von Unternehmen/Organisationen heraus zu finden, existieren unterschiedliche Fragebögen. Es sind dabei Fragen zu beantworten wie u.a.:
Wurden digitale Geschäftsideen, digitale Geschäftsmodelle erfolgreich umgesetzt?
Erfolgt Innovation in interdisziplinären Teams unter Berücksichtigung neuer Technologie
Wie ist die digitale Transformation strategisch verankert?
etc.
Grundsätzlich sollten Fragebögen zur Beurteilung des digitalen Reifegrads folgende Bereiche abfragen/abdecken:
Customer Experience / Customer Journey
Produktinnovation
Strategie
Organisation
Digitalisierung der Prozesse
Collaboration / Zusammenarbeit
Einsatz und Entwichlung der ICT
Kultur und Erfahrungswerte
Transformation Management / Change Management
Je nach Ergebnis des Reifegrad-Checks wird ersichtlich, wie digital ein Unternehmen oder eine Organisation bereits unterwegs ist und welches Potenzial noch nicht abgeschöpft wird bzw. noch nicht abgeschöpft werden kann (= es fehlen noch die dafür notwendigen Voraussetzungen).
Muss ich noch lokal analoge Prozesse digitalisieren (Localized Exploitation)?
Sind die internen Prozesse sinnvoll integriert (Internal Integration)?
Bin ich bereits in der Lage meine Geschäftsprozesse neu zu designen (Business Process Redesign)?
Arbeite ich noch mit den gleichen Geschäftsparnter wie im Industriezeitalter oder habe ich ein neues Ecosystem (Business Network Redesign)?
Kann ich mein angestammtes Geschäftsfeld neu definieren, beherrsche ich die Wertschöpfung aufgrund der Informationsführerschaft (Business Scope Redifinition)?
Den digitalen Reifegrad in der Flachglas verarbeitenden Industrie erachte ich als sehr unterschiedlich. Wobei weder die Unternehmensgrösse, noch deren Historie eine grundlegende Rolle spielen. Meines Erachtens sind das Committment der obersten Führungebene und die Kultur einer Organisation wesentliche Treiber der Digitalisierung, der digitalen Transformation.
Schaltbare Verglasung: die Marktteilnehmer 2020
Im Folgenden werde ich auf die Marktteilnehmer SageGlass (USA, gehört zu Saint-Gobain, elektrochrome Verglasung), View (USA, elektrochrome Verglasung), EControl-Glas (Deutschland, elecktrochrome Verglasung), Halio (USA, Japan, elektrochrome Verglasung), Merck (Deutschland, Flüssigkristalle) und iGlass (USA, elektrochrome Verglasung) sowie Click Materials (Kanada, USA, elektrochrome Verglasung, nasschemische Beschichtung) eingehen.
SageGlass wurde 1989 gegründet und ist weltweit tätig. Saint-Gobain ist 2010 mit USD 80 Millionen eingestiegen und hat anschliessend im Jahr 2012 100% der Firma erworben. Referenzobjekte gibt es in den Bereichen Gesundheitswesen, Bürogebäude, Bildung und Forschung, Gastgewerbe und Flughäfen (Aufzählung nicht abschliessend). SageGlass bietet 3 Produkte an, nämlich: SAGEGLASS®, SAGEGLASS LIGHTZONE® und SAGEGLASS HARMONY™ https://www.sageglass.com/de/produktuebersicht.
SageGlass verwendet die Systemsteuerung Symphony™, welche auf einer gängig konfigurierbaren Systemarchitektur basiert. Diese kann sowohl als eigenständige Lösung genutzt werden, als auch in ein Gebäudemanagementsystem integriert werden. Die Systemintelligenz wird durch SageGlass Maestro erzeugt. Für Maestro kommt ein modellbasierter Prognosealgorithmus zum Einsatz, bei dem verschiedene projektspezifische Eingangsdaten sowie Echtzeit-Messwerte von Aussensensoren berücksichtigt werden, um die Tönung der Scheiben automatisch zu steuern. Die dabei generierten Daten werden lokal gespeichert, um die Verfügbarkeit der Daten maximal zu halten.
Zur ständigen Optimierung der Gesamtlösung (schaltbare Verglasung und Steuerung) füllen die Benutzer einen Fragebogen zur Behaglichkeit im Gebäude aus. Zusätzlich kommt bei der Systemsteuerung Symphony künstliche Intelligenz zur Verbesserung der hinterlegten Algorithmen zum Einsatz. Predictive Maintenance wird zur Überwachung der Elektrokomponenten verwendet.
Die Gläser von SageGlass können ferner per Update mit einer Alarmfunktion ausgestattet werden.
SageGlass hat bereits über 1000 Projekte realisiert in 27 unterschiedlichen Ländern, geografischer Fokus ist primär Europa und dies im Bereich Commercial Buildings (Objekte ab 10’000m²). Bspw. wurden per März 2020 über 80 Lidl Filialen mit schaltbarer Verglasung von SageGlass ausgestattet sind.
View aus dem Silicon Valley (Milpitas) wurde 2006 gegründet und wesentliche Investoren sind: Softbank, BlackRock, Bain Capital, Corning, NZSUPERFUND, etc. Insgesamt hat View ca. USD 2 Milliarden an Kapital erhalten. View ist in Nordamerika unterwegs und gewinnt Objekte in den Bereichen Bürogebäude, Gebäude des Gesundheitswesens, aber auch Flughäfen. In Europa ist View weiterhin kaum spürbar. View Inc. vertreibt ein Produkt, nämlich View Smart Window, welches mit der Zusatzfunktion «Protect» = Alarmfunktion ausgestattet werden kann.
EControl-Glas ist ein deutsches KMU mit Sitz im Vogtland, Sachsen, welches 2006 gegründet wurde. Die Vogtländer haben es geschafft, ein elektrochromes Glas für Anwendungen u.a. in Bauten vom berühmten Architekten Libeskind (Leuphana Lüneburg) über Bürogebäude, begehbare Dachverglasungen bis hin zu privaten Wintergärten herzustellen. EControl-Glas ist primär (aber nicht ausschliesslich) in Europa tätig.
EControl-Glas bietet neu mit EC | SMART GLASS | 2 eine verbesserte Lösung an inkl. Optimierung in der Systemsteuerung. Die Steuerung EC-SYSTEM wird mit der Gebäudeleittechnik verknüpft, die generierten Daten gehen in die Cloud.
Die EControl-Glas GmbH & Co. KG ist aktuell am Ausbau ihres bestehenden Ecosystems. Bereits heute kollaboriert EControl mit Systempartnern, wie u.a. im Bereich Wintergärten (https://www.econtrol-glas.de/referenzen/systempartner/). Das Vogtländer Unternehmen bietet seine Dienste im Commercial wie Residential Building Sektor an. Auch kleinere Objekte im Privatbereich können umgesetzt werden; Anzahl Gesamtprojekte > 300.
Die dynamischen Sonnenschutzgläser von EControl sind Update fähig und können somit mit Verbesserungen und zusätzlichen Funktionen versorgt werden. Auch EControl ist in der Lage bspw. eine Alarmfunktion nachträglich zu integrieren.
Halio ist ein Joint Venture aus Kinestral Technologies (USA) und AGC (Japan), aber auch GTOC, eine Tochter von Foxconn (China) ist involviert durch eine Sacheinlage von USD 100 Mio. Ferner hat das südkoreanische Konglomerat SK Holdings Ende Januar 2019 zusammen mit den bestehenden Investoren zusätzliche USD 100 Mio. investiert (Serie D Funding). Halio ist weltweit tätig. Die publizierten Referenzobjekte sind noch überschaubar. Interessant beim Produkt von Halio sind das Schaltbild (Schaltzeit unter 3min.) und die geringe Lichttransmission im dunklen Zustand (Privacy-Funktion). Die Steuerung von Halio kann in die gängigen Gebäudemanagement- oder Haustechniksysteme integriert werden. Die Lösung kann durch Amazon Alexa, Google Home und anderen Sprachsteuerungen bedient werden. Neben dem Fassadenprodukt bietet Halio auch eine Lösung für den Innenbereich an.
Merck als weltweit grösster Produzent von Flüssigkristallen ist auch in den Markt für schaltbare Verglasungen eingestiegen und will am Wachstum der Smart-Building Technologie partizipieren. In ihrem Produkt «eyrise®» werden im Scheibenzwischenraum Flüssigkristalle geschalten. Neben Liquid Cristal Displays (LCD) fand Merck eine interessante alternative Anwendung für ihre Chemie. Merck vertreibt seine Produkte weltweit und hat mit einem Oscar Niemeyer Objekt in Leipzig ein spannendes Referenzobjekt gewinnen können.
Eine weitere bekannte Fallstudie mit eyrise® ist das Orkla City Gebäude in Oslo, Norwegen. Die Projekt-Referenzliste von Merck mit eyrise® ist noch übersichtlich.
Die Steuerung von Merck eyrise® ist KNX kompatibel (Beschreibung KNX-Standard) und kann somit mit den gängigen Gebäudemanagementsystemen kommunizieren, ein Zusammenspiel mit bspw. Heizung, Lüftung, Kühlung, Licht ist möglich. eyrise®ist in unterschiedlichen Formen und Farben erhältlich und die Schaltgeschwindigkeit (hell-dunkel) beträgt 1 Sekunde. eyrise® kennt keine Verdunkelungsstufen (bspw. von Tint 1 – Tint 4), sondern die Zustände «hell» oder «dunkel».
iGlass Technologie Inc. aus Südkalifornien ist ein neuer Player im Markt für schaltbare Verglasung und plant den Start der ersten Produktionslinie für das 4. Quartal 2020. Geplant ist der Vertrieb von 3 unterschiedlichen Produkten, nämlich: iGlass Secondary Gass Units (SGU) für den Einbau in bestehende Fensterrahmen, iGlass Insulated Glass Units (IGU) für den Neubau oder beim Austausch von Fenstern und iGlass Flexible Glazing Units (FGU) Based on Film (=Folie mit elektrochromer Beschichtung). Das entwickelte System von iGlass nennt sich Deep Black™. In dunklem Zustand soll die Lichttransmission der smarten Gläser unter 1% liegen, bei hellem Zustand zwischen 60-70%. Die angegeben Schaltzeit von der hellsten zur dunkelsten Einfärbung beträgt 3 Minuten, wobei die Einfärbung stufenlos ist. Das Deep Black™ System von iGlass kommuniziert mit der gängigen Gebäudeleittechnik. Mitglied beim Board of Directors ist u.a. Herr Ricardo Maiz, President of Vitro Architectural Glass.
Click Materials: am 12. Mai 2020 wurde die Meldung publiziert, dass das kanadische Start-up Click Materials eine Partnerschaft mit Cardinal Glass eingegangen, mit dem Ziel, eine kostengünstige Alternative (primär zu View auf dem nordamerikanischen Markt) aufzubauen. Click Materials ist ein Beschichtungsspezialist und hat eine nasschemische Beschichtung im Sprühverfahren entwickelt, welches gemäss eigenen Angaben zu massiv tieferen Produktionskosten führen soll.
Wie könnte sich der Markt für schaltbare Verglasungen weiter entwickeln?
Der Markt für schaltbare Verglasung wird meines Erachtens weiter im zweistelligen Prozentbereich p.a. wachsen, analog zu Smart Building im Allgemeinen. Per Mai 2020 wurden weltweit ca. 2'500 Projekte mit schaltbarer Verglasung durchgeführt. Somit bleibt es im Vergleich zu Standard-Verglasungen ein Nischenmarkt. Der globale Flachglasmarkt hat gemäss www.visiongain.com eine Grösse von ca. 120-125 Mrd. USD pro Jahr, fallen ca. 3% auf schaltbare Verglasung ergibt dies eine theoretische Marktgrösse von > 3.6 Mrd. USD p.a.. Diesen Markt teilen sich heute primär die oben aufgeführten fünf Unternehmen. Es herrscht somit keine vollkommene Konkurrenz, benötigte Ecosysteme sind am Entstehen und noch nicht etabliert. Ich kann mit vorstellen, dass weitere Branchen ausserhalb des Flachglases den oben skizzierten Markt für schaltbare Verglasung beobachten, welche durch die disruptive Wirkung des smarten Glasproduktes betroffen sind, wie bspw. die Anbieter aussenliegender Verschattungssystemen.
Fazit: Der Markt bleibt mit Sicht auf die Wachstumsraten mittel- bis langfristig attraktiv. Die Rollen im Bereich Smart Building, Smart Home sind noch nicht bezogen, jedoch positionieren sich immer wie mehr Player, auch aus fremden Branchen. Eine Gestaltung von nachhaltigem, energieeffizientem Lebensraum ist nur im Verbund, in einem sich ergänzenden Ecosystem gut möglich.
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